Die Gruppenanalyse

„Seelische Störungen sind ein gesellschaftliches Problem – ein Problem, wie die Menschen unter unseren gesellschaftlichen Bedingungen miteinander zurechtkommen“ (Burrow 1998, S. 103)1.

Diese Aussage traf Trigant Burrow während seiner Forschungen und seiner Arbeit (1928) in und mit Gruppen. Er beobachtete, dass individuelle Störungen und Verhaltensweisen eine Wechselwirkung zu „gesellschaftsweit verbreiteten“ Konflikten aufzeigen: „Gesellschaftliche Konflikte sind innerlich, in uns, nicht etwas außerhalb von uns, das wir als nicht zu uns gehörig lediglich beobachten könnten. Sie stellen auch keine Probleme dar, die wir als isolierte einzelne haben, sondern als einzelne, die schon immer in einer Gemeinschaft mit anderen leben (107)“.

Wie ist das in unserer heutigen Gesellschaft zu verstehen und welche Kernelemente zeichnet die Gruppenanalyse aus?

Wir sind durch das gesellschaftliche „Beziehungsnetz aus dem wir kommen und in dem wir leben“2 geprägt und beeinflusst (Foulkes 1997). Ohne den anderen, ohne ein Gegenüber gibt es keine Bewegung, keine Entwicklung, kein Lernen.

Wir fädeln unseren Faden mit unserer einzigartigen Geschichte, unseren Erfahrungen, unseren Empfindungen, unserer Art zu denken „in ein Netz der Beziehungen“3 (Hannah Arendt 2006) ein, bilden Gruppen, Teams, Institutionen, Unternehmen, Vereine, Parteien, Netzwerke, sind miteinander und mit allen sozialen Systemen in und mit unserer Gesellschaft verbunden.

Die daraus entstehenden bewussten und unbewussten Verflechtungen und Zusammenwirkungsprozesse 4 zwischen uns Einzelmenschen und komplexen gesellschaftlichen Bedingungen und Strukturen, werden stellvertretend in sozialen, kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Institutionen wirksam. Sie zu erforschen, ist das Kernanliegen gruppenanalytischen Arbeitens.

Wir werden damit in die Lage versetzt, Rückschlüsse und Erkenntnisse über den Reifegrad unserer Gesellschaft (Elias 1997)5 in der wir leben, arbeiten und wirken, zu gewinnen.

Welche gesellschaftlichen Einflussfaktoren und Kriterien fördern z.B. straffälliges Verhalten, soziale Ungleichheiten, ökologische und ökonomische Konflikte? Welche individuellen und kollektiven Motivationen werden in Mobbingprozessen wirksam? Welche kollektiven Muster verbergen sich hinter der Wut im Netz? All diese Ausdrucksweisen, diese dynamischen Prozesse sind Teil von uns, sind Teil unserer Gemeinschaft, ist Teil von mir selbst.

Das anzuerkennen ist mitunter nicht ganz einfach. Wir nehmen uns eher als getrennt von anderen Menschen wahr und schreiben uns weniger einen „gemeinsamen sozial-übergreifenden Charakter“ zu (Burrow 1998, S.107).

Wie und in welcher Art und Weise unsere individuellen und sozial-gesellschaftlichen Prägungen sowie die bewussten und unbewussten Beeinflussungen in uns und nach außen hin wirksam werden, und wie sich unser Weg des zu uns selber Findens 6, gestaltet, liegt am Grad unserer Neugier, unserer Motivation, uns zu ergründen.

Die assoziative Arbeitsweise der Gruppenanalyse öffnet einen Raum, unseren bewussten und unbewussten Verflechtungen in ihrer Vielschichtigkeit, Unterschiedlichkeit und Gemeinsamkeit nachzuspüren und uns im Spiegel 7 der anderen, der gesellschaftlichen Systeme wahr zunehmen.

Die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Perspektiven ermöglicht es uns, soziale, gesellschaftliche, kulturelle, wirtschaftliche und politische Entwicklungen und Prozesse als ein sich wechselseitig bedingendes System anzuerkennen und verschlungene soziale Dynamiken auf einer tieferen Ebene zu verstehen.

Dazu braucht es Mut. Uns zu zeigen, uns zu öffnen, uns mitzuteilen, ist nach Hannah Arendt (2006) nur möglich „im Vertrauen in das Menschliche aller Menschen“ (S. 263).

Die Gruppenanalyse findet Anwendung in der Supervision, der Organisationsberatung, der Gruppenselbsterfahrung und der Gruppenpsychotherapie.


Weitere Literaturanregungen:

Charlotte Beradt (2017): Das Dritte Reich des Traums

Kai W. Dierke Anke Houben (2013): Gemeinsame Spitze - Wie Führung im Top-Team gelingt

Alain Ehrenberg (2011): Das Unbehagen in der Gesellschaft

Rolf Haubl (2018): Emotionen bei der Arbeit

Christoph Seidler (2021): Warum nur Krieg - Einsichten und Ansichten eines Psychoanalytikers

Carolin Würfel (2022): Drei Frauen träumten vom Sozialismus - Maxie Wander - Brigitte Reimann - Christa Wolf

Juli Zeh & Simon Urban (2023): Zwischen Welten

 

 

1 Luzifer-Amor, 11. Jahrgang, Heft 21, 1998, S.103-112: Das Fundament der Gruppenanalyse oder die Analyse der Reaktion von normalen und neurotischen Menschen

2 Sigmund Foulkes (1967): Gruppenanalytische Psychotherapie

3 Hannah Arendt (2006): Denken ohne Geländer

4 Susan Long (2009): Systeme unbewusster Vereinbarungen: Schatten durch die Zeit. In: Burkard Sievers (2009):

Psychodynamik von Organisationen

5 Norbert Elias (1997): Über den Prozess der Zivilisation

6 Christa Wolf (1971): Nachdenken über Christa T

7 Malcolm Pines (2004): Soziales Gehirn und soziale Gruppe: Wie das Spiegeln Menschen verbindet. In: Hayne/Kunzke (2004): Moderne Gruppenanalyse

Heike Düwel

Alte Krugstraße 5
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Diplom-Supervisorin DGSv
Gruppenanalytische Supervisorin IGA
Organisationsberaterin (ehemals) D3G
Gruppenlehranalytikerin IGA

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